Schwäbisch für Besserwisser

Von der Grattel zu dem Grattel

Wenn es einem zu gut geht, läuft er Gefahr, einen Allmachts-Grattel zu entwickeln. Wenn er aber "kaum no grattle" kann, geht es ihm ganz schlecht.

Die Bandbreite der Befindlichkeiten,, die sich mit den Mitgliedern der Wortfamilie Grattel ausdrücken lässt, sucht ihresgleichen. Sie reicht von den Höhen der Arroganz bis in die Tiefen des Rheumatismus. Außerdem lassen sich damit Körperpartien, Bewegungsarten und Krankheiten beschreiben.

Im Duden suchen wir Grattel, gratteln, Grattler und grattlig vergebens. Man kennt diese Wörter in der Hochsprachen nicht (mehr). Im Schwäbischen hingegen bedient man sich ihrer gerne. Wo andere klagen "Ich komm' auf dem Zahnfleisch daher", stöhnt der Schwabe kürzer und prägnanter: "I ka kaum no grattle." Dem entsprechend nennt man einen durch Rheuma oder sonstige Zipperlein gehbehinderten Greis einen "alten Grattler". Kann einer jedoch vor lauter Aufgeblasenheit kaum gehen, dann hat er einen Grattel, wobei diesem gerne noch ein verstärkendes Mords- oder Allmachts- vorangestellt wird. Etwas ganz anderes ist  die Grattel, nämlich jene Stelle, an der sich der Körper in zwei Beine gabelt - auch Schritt genannt - und wo mitunter die Hose reißt. Die ist dann "in der Grattel verrisse".

Wie kommt es zu diesen doch sehr divergenten Bedeutungen? Das Hauptwort Grattel und das Eigenschaftswort grattelig sind vom Zeitwort gratteln abgeleitet, das im Grimmschen Wörterbuch übersetzt ist mit "spreizen, namentlich die Beine spreizen" sowie den weiteren Bedeutungen "steigen, klettern" und "krabbeln, kriechen". Fischers Schwäbisches Wörterbuch vermutet, dass dahinter der lateinische gradus (Schritt) steckt, dessen Verkleinerung gradulus (Schrittchen) sowohl lautlich wie auch sinngemäß dem gratteln schon ziemlich nahe kommt.

Aus der Tatsache, dass manche, die mit Mühe den Schritt zum akademischen oder sonst einen Grad geschaffen haben, einen Allmachts-Grattel entwickeln, darf jedoch nicht geschlossen werden, dass der Grattel ein direkter Abkömmling von Grad ist, sondern, wie schon bemerkt, vom gratteln kommt.

Dies gilt zumindest für den ersten der drei Grattel, die Grimm sorgfältig voneinander trennt. Laut Grimm gibt es 1. der/die/das Grattel: Spreizung, namentlich der Beine, auch Astgabel; Stellung mit gespreizten Füßen; 2. der Grattel: Geschwür; 3. der/die Grattel: Hochmut , Dünkel. Das schweizerischen Idiotokon deutet die Möglichkeit an, dass Grattel = Hochmut vom französischen gratter oder gratteler (kratzen, kraulen) hergeleitet werden könnte, im Sinne eines Kitzels.

Die Frage ist, ob man die Erklärung wirklich so weit herholen muss. Schließlich reicht die Bedeutung "Spreizung, namentlich der Beine" aus, um sie auf einen Angeber zu übertragen, der vor Bedeutung schier platzt - gerade auch in der Grattel.

von Henning Petershagen

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